Wen wundert’s?

Neulich wurde ich gefragt: „Katja, glaubst du an Wunder?“ Eine Frage über die es sich nachzudenken lohnte. Keine, die mich grad in eine Sinnkrise stürzte. Dennoch: eine die es in der heutigen Zeit mit einem kritischen Blick zu betrachten und überlegt zu beantworten gilt. Man will ja nicht gleich als Antichrist abgestempelt werden.


Sehr liberal aufgewachsen was den Katholizismus und seine Lehren anbelangt (Danke, Mama!) wurde uns früh freigestellt, wann und ob wir zur Kirche pilgern wollten.
Ich erinnere mich, wie wir Kinder uns den Spass erlaubten in den Gotteshäusern die Gesichter der Engel anzustarren und Fratzen zu ziehen. Die Engel im Gegenzug schienen schelmisch auf uns runter zu blicken und stifteten uns zum Kichern an. Die gruselige Mutprobe, sich tote Menschen im Beinhaus anzuschauen wurde bald zur Gewohnheit. Wenn auch nur von Weitem, weil der Schneid uns dann doch rascher als erwartet verliess. Der Höhepunkt im katholischen Jahreskalender war mit Bestimmtheit die Christmette. Eine Kerze in den zum Gebet gefalteten Händen durch die dunklen Hallen tragen und das Lichtermeer in finsterer Nacht bestaunen – wie erhaben fühlten wir uns dabei. Ohne Zweifel ein schöner unvergesslicher Moment für uns Kinder, der mit der in Brandsetzung meiner Haare durch die Kerze meines Bruders ebenso rasch gelöscht wurde, wie meine hüftlangen Haare selbst. Vorbei war der magische Moment. Dass Christus in dieser Nacht geboren worden sein soll, spielte eine zweitrangige Rolle. Wer den Gestank von verbranntem Horn kennt, weiss, weshalb wir aus besagter Christmette möglichst rasch einen Abgang wagten.  Ab diesem Zeitpunkt gab meine Mutter die religiöse Erziehung auf und überliess uns die Entscheidung, wie wir mit dem Thema Religion und Glauben umgehen wollten. Ich bin ihr heute noch dankbar, uns nicht in eine Schiene gepresst zu haben. In diese starren Formen, die der Katholizismus vorschreibt. Regeln, die ich nicht befolgen wollte oder konnte.

Jahre später: Meine abgesengten Haare waren längst nachgewachsen aber ich blieb weiterhin abstinent was Kirchenbesuche betraf. Trotz ungläubigem Verhalten wählte ich einen Beruf, an dem Gott wohl seine wahre Freude hat. Ich wollte Menschen helfen, sie unterstützen, eine tragende Rolle in ihrem Leben spielen in Sturmzeiten. Ich wollte sozial sein und wurde Krankenschwester. Leute behaupteten: Wir hätten engelsgleiche Hände, so sagte man, und würden Wunder vollbringen. Berufen vom Allmächtigen. Eine Berufung? Nein, so fühlte ich mich nicht. Und ich weiss, dass meine Kolleginnen aus dem Berufsstand zustimmend mit dem Kopf nicken würden, wenn ich sage, dass wir keine Wunder vollbringen können. Leute da draussen: Weil wir uns für einen Beruf entschieden haben, bei dem ein anderer Mensch im Mittelpunkt steht, deswegen sind wir noch lange keine Engel. Ich zumindest hab noch nie eine Krankenschwester mit weiss gefiederten Flügeln davon schweben sehen. Auch wenn mich die Vorstellung ein bisschen amüsiert.

Mit zunehmendem Alter nahmen meine Kirchengänge sporadisch zu. Dies alleine aus dem Grund, weil ich mich plötzlich in einem Alter wiederfand, wo Freunde heirateten. Kirchlich versteht sich von selbst. Wo Kinder an Taufbecken ihre Namen, den Segen des Herrn und zusätzlich einen gutverdienenden Sponsor entgegennahmen – einen Paten. Manchmal wurde auch gestorben, was nicht schön war aber irgendwie zum Kreislauf des Lebens gehörte. Nun, Kirche und die dazugehörigen Veranstaltungen wurde ab einem gewissen Alter plötzlich wieder „in“ und interessant. Die Kirche verkaufte sich gut. Nach wie vor gehört es zum guten Ton an einer Hochzeit, einer Beerdigung oder einer Taufe am Gottesdienst teilzunehmen, will man sich keine tödlichen Blicke einfangen. Und dabei spielt es gar keine Rolle, ob man  an Wundern oder Glauben interessiert ist. Es ist Etikette. Was Knigge sagt ist Gesetz.

Glaube ich an Wunder? Existieren sie? Ich sage nein, Wunder gibt es nicht. Ich glaube ebenso wenig an göttliche Wunder wie an eine wundersame erfolgversprechende Pille zum Abnehmen oder den verwunderten Verheissungen von Politikern. Denn wenn es sie gäbe, diese Mirakel, dann wäre die Welt wunderbar. Sie wäre weder leidend noch würde sie hungern und in Kriegen sterben. Die Welt wäre voller Wunder, davon bin ich überzeugt, gäbe es Frieden unter den Völkern und wenn Gleichheit und Einheit mit der Natur herrschte. Wenn jedes Kind in geschütztem Rahmen aufwachsen könnte, ohne Hiebe und ohne die stete Furcht abends keinen Unterschlupf und kein Essen finden zu können. Wenn Bildung eine Selbstverständlichkeit wäre, damit Jede und Jeder lesen und auch verstehen lernen könnte.

Über das Anstarren der Engel in den Emporen so wie die Faszination für Kerzenlicht kam ich nie hinaus. Die Kirchenoberhäupter benennen solche Menschen wie mich wie folgt: Atheist. Ich persönlich bevorzuge die Bezeichnung Agnostiker. Ich weiss nicht ob es einen Gott gibt. Ich streite seine Existenz weder ab noch bejahe ich sie. Für mich ist diese Frage nicht beantwortbar. Trotzdem: auch ich bin nicht ganz ungläubig. Denn ich glaube an das Gute im Menschen, an die starke Kraft, die jeder besitzt und die von jedem ausgeht. Es ist die Kraft, sich selber als etwas Gutes zu sehen, Wohlwollen weiterzugeben und seinem Gegenüber die Gelegenheit geben sich wundervoll zu fühlen, weil man ihm das Gefühl gibt, wichtig zu sein.  Für mich eine erste Annäherung an das Thema Wunder. Und vielleicht gewinnt somit die Aussage „du bist wunderbar“ für mich wieder vermehrt an Bedeutung. Und das geht ganz gut auch ohne Wunder.